Gesellige Einsamkeit
Am Anfang ist immer das Chaos, ein vielleicht schlimmer Zustand, aber besser als das Nichts. Fritz Föttinger, der Maler aus Obernsees (Kreis Bayreuth), tut sich den Schrecken vieler Berufskollegen und auch Schriftsteller nicht an, setzt sich nicht vors leere Blatt, sondern vor ein volles, um aus dem Vollen zu schöpfen. Ein Schmierblatt ist’s, das einen vorherigen Schöpferakt begleitet hat. Der Pinsel ist dutzende Male an ihm abgestrichen, auch mal der Finger abgewischt worden. Bei genialen Schmierern wäre damit vielleicht schon ein Bild fertig, aber Föttinger ist zwar genial, indes kein Schmierer. Er hat neben seinem Hand-Werk noch das Sehen gelernt, und also sieht er jetzt, was andere nicht sehen. Das Thema, das er im Kopf hat, sucht und findet Kongruenzen mit den Zufallslinien und –flecken auf dem Blatt.
Das ist der Zeugungsakt. Er kann, wie andere, ein Weilchen dauern und findet, wie andere, auf dem Sofa statt. Dort sitzt der Maler in gebührender Entfernung zur Staffelei und hat seinen Augenspaß. Er entdeckt Positionen und Konturen von Köpfen und Gesichtern. Dann freilich folgt die Mühsal jeder Schwangerschaft. Köpfe und Leiber wollen an der Staffelei ausgetragen, wollen Fleisch und Blut, sprich: Form und Farbe werden.
Da kann es dann sein, dass die Bildvision dem „Komponisten“ Föttinger aus dem Ruder läuft. Ein Gesicht zu viel, eine Teilfläche zu voll: Das merkt der Maler oft erst aus der Distanz des Sofas. Was einem Georg Baselitz zur Marotte verkommen ist, dient Föttinger als Trick zur Selbstkontrolle. Indem er das Bild umdreht, wird dessen Inhalt weitgehend ausgeblendet, weil abstrahiert. Die reine Form bleibt übrig und lässt sich nach ausschließlich formalen Kriterien korrigieren, um den Inhalt dann umso intensiver zu steigern.
Was aber das Schwierigste ist: Die Gestalten auf dem Bild wollen, müssen eine Seele bekommen. Föttinger als Vatermutter muss da passen. Es bleibt ihm nichts übrig, als sich zum Herrgott seines gemalten Kosmos aufzuschwingen und den zweidimensionalen Lehmklößen etwas von sich selbst einzuhauchen.
Wie er das macht ist ein Geheimnis, denn wieweit ist Inspiration schon erklärbar? Dass er’s seit gut zwei Jahren etwas anders macht als früher, ist schon eher rational zu begründen.
Föttinger, der Selbstkritische, sucht das Neue, was ihm die Vielfalt seines weit über dreißigjährigen künstlerischen Lebenswerkes bescheinigt.
Das neueste Neue sind Menschen am Tisch. Seit er begann, dieses Thema künstlerisch-philosophisch auszuleuchten, kasteit er sich. Er, der so gerne die behagliche, introvertierte Kuschelwärme darstellte, die aus der Nähe von Mensch und Tier entsteht, entsagt bis auf Weiteres geliebten Tierdarstellungen.
Der neue Schaffensabschnitt hat wohl den Drang gefördert, dem ersten Föttinger-Bildband „erdfarben“ so relativ kurzfristig einen zweiten folgen zu lassen. Das Titelblatt „Ferne Welt“ (1992) des neuen Buches zeigt zwar noch ein Tier, entstand also in der Frühzeit der hier gezeigten Periode von 1991 bis 1994, signalisiert aber bereits Aufbruchstimmung. Das Bild ist nicht mehr so sorgfältig durchkonstruiert und protestiert mit skizzenhaften Elementen gegen die ausgefeilte Harmonie seiner Vorläufer. Er begann, weniger weltvergessen und schönheitsversessen zu malen, indem er, etwa bei „Ferne Welt“, das flüchtige zeichnerische Element mit dem malerischen kombinierte und der farbigen Fläche eine eigenständige abstrakte Funktion zuwies.
Mit zunehmender Kargheit kam fast automatisch auch der Mut zur leeren, weißen Fläche. Bei der oben geschilderten Bildwerdung ist es kein Wunder, dass es keine kreideweiße ist. Dem privaten Liebhaber von Weißherbst und anderen guten Rebsorten fiel wortspielerisch der Begriff ein für das wohl ausgefallenste Weiß, das es je gab: herbstweiß. Und so heißt denn auch dieses Buch, dessen Titel zugleich auch mit etwas Wehmut den künftigen Lebensstandort des Malers vorwegnimmt. Derzeit genießt Föttinger mit seinen 55 Jahren freilich noch den Altweibersommer.
Der anderen Darstellungsweise folgte das erwähnte andere Sujet, das nicht um seiner Neuigkeit willen gewählt wurde, sondern mitten aus dem Leben des Künstlers ihm zuwuchs. Er und seine Frau Ingeborg engagieren sich seit Jahren für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Innerhalb der Obernseeser Dorfgemeinschaft, die dem Flüchtlingsproblem gegenüber vorbildlich aufgeschlossen ist, beschafften sie lebenswichtige Hilfsgüter, organisierten Transporte ins Kriegsgebiet und kümmerten sich um Vertriebenen, die Zuflucht im Dorf fanden.
Wo immer Helfer und Leidtragende des Kriegs sich begegneten, so geschah dies am Tisch: Im Wirtshaus oder in Privatwohnungen. Diese und andere Tischgemeinschaften sind nunmehr Föttingers unerschöpfliches Thema, denn er macht sich die Mühe, hinter der scheinbaren Harmonie der Gemeinsamkeit auf das zerrissene Individuum zu schauen. Er zeigt, wie er’s ausdrückt, „Betroffene des Lebens“, gezeichnet von „Narben des Schicksals“, zeigt damit das Leben an sich, dem er einigermaßen melancholisch gegenübersteht. Er und seine Figuren, die bei aller Unterschiedlichkeit sogar noch als Frauen er selbst sind, könnten Geschöpfe des Dramatikers Samuel Beckett sein. Sie warten aufs Ende oder bestenfalls auf Godot. Sie tun das – auch in Gesellschaft – in grenzenloser Einsamkeit, die bei Beckett wie auch bei Föttinger durchaus auch ihre komischen und jedenfalls ihre dramatischen, unterhaltsamen Seiten hat. In dieser kurzen Einsamkeit zwischen Geburt und Tod (Becket: „Sie gebären rittlings über dem Grabe“) spielt das Alter keine Rolle. Der Maler kann weder bei sich noch bei seinen Geschöpfen eines ausmachen.
Laut Föttinger gehört die Einsamkeit zentral zum Leben. Lediglich der Liebe und der emotionalen Beziehung zwischen Mensch und Tier billigt er die Chance zu, die Flucht aus der Einsamkeit zu ermöglichen. Jedenfalls ist Erotik für ihn „eine der wenigen Möglichkeiten des Glücks“.
Also ist sie eine ernste Sache – so ernst, dass selbst der melancholische Spaßvogel Föttinger Schwierigkeiten mit einem Bild hat, das ihm auf den Spuren des beschriebenen kontrollierten Zufalls so herausgerutscht ist. „Augenblich (1994, Abb. Seite 79) zeigt zwei Schmusepärchen am Tisch, von denen jeweils ein Partner sich für besagten Augenblick aus der angestammten Zweierbeziehung gelöst hat, um mit dem Gegenüber fremdzugehen. Der Maler lässt es trotzdem gelten, nicht zuletzt seiner Frau Ingeborg zuliebe, die in dem Opus, wie er vermutet, ein Plädoyer für die Frauenemanzipation sieht.
Viele der neueren Bilder haben die erwähnten abstrakten Elemente in sich. „Nach Mitternacht“ (1994, Abb. Seite 77) etwa vereint vier Menschen um einen Tisch vor einem Hintergrund, der scheinbar unmotiviert fast schwarz ist und gleich daneben das helle, warme Gelb des Tisches weiterführt – man könnte meinen, dort sei die Pforte zu einer transzendentalen Welt. Dies Transzendentale ist auch in anderen Bildern angelegt, sei es im „Stammtisch“ (1994, Abb. Seite 73), der von grün in ein Violett hinübergleitet und es denkbar erscheinen lässt, dass in Fortsetzung der frommen Farbe die Stammtischgesellschaft in eine Abendmahlsgemeinschaft ausläuft.
Zuweilen ist Transzendentales leichter auszumachen. 1991 entstand im Obernseeser Atelier ein „Polnischer Christus“ (Abb. Seite 95), der vom Künstler mitten in ein masurisches Dorf hineingesetzt wurde. Christus unter uns? So einfach macht Föttinger es sich und uns nicht mit der Religion, stellt eher Fragen, anstatt Antworten zu geben. Und er stellt vor: jenen polnischen Volkskunst-Christus, der nicht, wie bei uns, am Kreuz hängt, sondern in Denkerpose darunter sitzt, den Kopf in die Hand gestützt. In ganz naiven Darstellungen, wie Föttinger eine mitgebracht hat, liegt die Stützhand einfach brettartig am Kopf an, und so plakativ-naiv ist der Christus dann auch aufs Bild geflossen.
Das Skizzenhafte, von dem Föttinger sich mehr Spontanität erhofft und tatsächlich auch bezieht, machte den früheren Perfektionisten aufmerksam auf die Kunst des Weglassens. Dabei entdeckte er für sich, dass auch ausgesparte Flächen Form, Farbe und Aussage haben und machte sie zum Mittelpunkt neuester Bilder. Ein Beispiel dieser gelungenen Experimente, die sich den satten, erdigen Farbton von Packpapier zunutze machen, ist bereits in dies Buch aufgenommen worden. „Vor St. Johannis“ (1994, Abb. Seite 33) zeigt vor dem sehr frei zitierten gleichnamigen Bayreuther Stadtteil einen packpapierfarbigen Trompeter.
Föttingers Bilder sprechen landläufigen Künstler-Regeln Hohn. Mal begeht er die „Todsünde“, eine Figur genau in der Bildmitte zu platzieren, fast nie berücksichtigt er die Diagonale, und jeder Anhänger des „Goldenen Schnitts“ möchte sich die Haare raufen.
Das alles ficht den selbstbewussten Monolithen aus Obernsees nicht an. „Man soll die Kompositionsregeln kennen, sie aber nicht beachten“, meint er und verweist auf Picasso. Der sah in der Kunstwissenschaft und –kritik den Tod der Künste und stellte fest: In den Museen sieht man nur „misslungene Bilder“.
Dies Buch ist kein Museum. Kein Kunsthistoriker und –kritiker hat die Bildauswahl getroffen, sondern der Künstler selber. Nicht aus irgendeinem angelesenen Sachverstand heraus, sondern aus den Tiefen des Unbewussten. Von dort kommen die Bilder, dahin zielen sie.
Gero v. Billerbeck